»Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen …« – »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass …« –
Wenn Sätze so beginnen, sind die meisten Menschen bereit, ihnen ohne weiteres Glauben zu schenken.
Das Siegel der Wissenschaft gilt heute als die höchste Garantie, dass einer Sache wirklich auf den Grund gegangen wird: Wissenschaft ist so neutral, wie etwas nur sein kann.
Ohne persönliches Wunschdenken oder Vorurteil, ohne irgendetwas zu verzerren oder zu verschweigen.
Diese streng sachliche Art hat uns aus dem Gestrüpp des mittelalterlichen Aberglaubens befreit. Sie hat uns, wie wir sagen, zu »aufgeklärten Menschen« gemacht. Und sie hat uns den Fortschritt ermöglicht, der heute aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Doch eben dieser Fortschritt bereitet inzwischen vielen Menschen Sorge. Immer mehr zeigt sich, welche furchtbaren Nebenwirkungen er hat. Mit einem Mal, scheint es, ist auch die Wissenschaft ohne Rat. Sie konnte uns in die Moderne führen und zur globalen Informationsgesellschaft machen – doch nicht nur vor den strukturellen Problemen und der Umweltkatastrophe steht sie mit leeren Händen: noch weniger weiß sie Antwort auf die zunehmende innere Orientierungslosigkeit der Menschen.
Ich bin selbst Wissenschaftler – oder besser gesagt: ich war es. Junior-Wissenschaftler. Ohne Rang und Namen. Ich steckte mitten in einem Forschungsprojekt, mit dem ich mir meinen Doktortitel verdienen wollte. Es sollte gehen um die Wurzeln unserer Kultur – und um ihre Zukunft. Das Internet hatte noch kaum Bedeutung; doch ansonsten war die Digitalisierung schon im vollen Schwange. Auch mit VR-Brillen und ähnlichem wurde bereits experimentiert. »Virtual Reality« war in aller Munde.
Als Medienwissenschaftler wollte ich erforschen, wie sehr die virtuellen Räume die Menschen beeinflussen. Man wusste bereits, dass Inhalte, die jemand sich am Rechner anschaut, vom Gehirn sehr intensiv aufgenommen werden. Es gab auch schon die ersten Gamer mit Suchtproblemen. Viele Menschen waren elektrisiert von den »überrealen« Möglichkeiten der Technik, die sich auch damals schon rasant weiterentwickelte.
Ich hatte den Verdacht, dass diese künstlichen Welten für manche zu einer Art »neuem Jenseits« werden könnten. Die Darstellungsqualität der Geräte wurde immer besser – wer nur tief genug eintauchte in die Illusion, konnte emotional unbeschreibliche Momente erleben. Für manch einen Jugendlichen waren es vielleicht die intensivsten Momente seines ganzen bisherigen Lebens – aufwühlend und ergreifend wie eine Initiation. Das Leben in den 1990ern war nicht so anders als heute – auch damals schon fühlten viele sich entwurzelt, überflüssig, leer. Lebendige Natur- und Sinneserfahrungen waren auch in den damaligen Ballungsräumen schon kaum mehr möglich.
Mir fällt der Film »Trainspotting« ein, der damals lief. Es war alles schon da: die aberwitzige Suche nach dem Risiko, dem Kick, die Drogen, die nächtlichen Autorennen. Der innere (und äußere) Schrei, endlich spüren zu können, dass man da ist, dass man lebt. Das kaum auszuhaltende Vermissen von – ich nenne es einmal – »spirituellem Ur-Erleben«. Vor allem über die Sinne, die so zum Tor ins Transpersonale werden – hin zu Bewusstseins-Orten, an denen das quälende Gefängnis des eigenen Ich, diese ständige Isolation, einfach mal für eine Weile verschwindet.
Was würde es seelisch auslösen, wenn aus dem Trainspotting ein »Cyberspotting« würde? Wenn eine Art »digitaler Spiritualität« entstand – noch viel buchstäblicher »auf Knopfdruck« als eine Generation zuvor beim LSD? Selbst LSD-Guru Timothy Leary hatte sich nach dem Scheitern seiner Vision ja in die binäre Welt gestürzt; und seine Ansprüche an »intensive Erfahrungen« waren bekanntlich immer gigantisch gewesen. Ich sah kommen, dass die Sehnsucht nach spiritueller Rückbindung sich auf den Cyberspace richten würde, natürlich in völlig profanisierter Form. Sozusagen mit dem Bildschirm als Kristallkugel und Altar. Ich finde, ich lag damals gar nicht so verkehrt. Nur die Smartphones habe ich nicht kommen sehen.
Ich hatte den Verdacht, dass die virtuellen Räume in den Menschen so etwas wie Ergriffenheit auslösen können. Pseudo-religiöse Gefühle sozusagen, künstliche spirituelle Erfahrungen.
Um dies zu klären, musste ich natürlich auch echte religiöse Gefühle, echte spirituelle Erfahrungen berücksichtigen. Doch ich stieß auf erbitterten Widerstand. Vielleicht arbeitete ich mit den falschen Leuten zusammen? Jedenfalls fragte mein Doktorvater schließlich, ob ich als Mann der Wissenschaft wirklich ernsthaft behaupten wolle, an mystischen Erlebnissen sei auch nur irgendetwas real? Am Ende vielleicht noch in meiner Doktorarbeit Loblieder auf Gott singen?
Ja, in der Tat. Das war durchaus meine Absicht gewesen. Nicht singen vielleicht, aber doch offen ansprechen. Ich wollte als Mensch mit eigenen mystischen Erfahrungen und einer eigenen lebendigen Spiritualität im Bereich der spirituellen Erfahrungen forschen. Meine eigenen Erfahrungen wollte ich auch gezielt mit einfließen lassen. War nicht im die Rede vom Paradigmenwechsel? Ich war überzeugt, dass Wissenschaftler wieder lernen müssen, nicht nur die Nüchternheit und Objektivität zu pflegen, sondern gleichzeitig auch in die eigene Subjektivität »hinabzusteigen« – natürlich auch hier als neutraler Beobachter.
Schon immer hatte ich mich gefragt, warum die moderne Wissenschaft noch immer alles Göttliche, ja sogar alles Seelische ausgrenzt. Jeder weiß, dass dies ganz früher einmal nur so gegangen war – zu Zeiten von Galilei und Kopernikus. Damals nahm nur die Kirche sich das Recht heraus, den Menschen die Welt im Ganzen zu erklären. Leute, die in ihren »Jagdgründen« wilderten, behandelte sie nicht gerade zimperlich. Wer also in Ruhe forschen wollte, sparte Gott und die menschliche Seele lieber großzügig aus. Das war Kirchensache. Doch warum heute immer noch? Längst gibt es völlig neue Formen der Spiritualität, die mit dem autoritären Gehabe der Kirche nichts das Mindeste am Hut haben. Die eine ganzheitliche Weltsicht anstreben und darum oft auch wissenschaftlich interessiert sind. Last but not least: auch die Wissenschaft selbst – vor allem die Grundlagenforschung – ist längst in Bereiche vorgestoßen, in denen gar keine Objektivität mehr möglich ist. Schon die Quantenphysiker der ersten Generation mussten dies erkennen – vor inzwischen 100 Jahren!
Nachdem mein Doktorvater sich zunehmend reservierter zeigte und auch kein anderer sich auf dieses Neuland wagen wollte, fand ich mich plötzlich an einer Wegscheide wieder. Es war nie um eine Karriere gegangen, aber ich hatte mich die ganzen letzten Jahre darauf gefreut, einmal mit jungen Menschen zu arbeiten und sie zu unterrichten. Bücher über den Wandel des westlichen Weltbildes wurden regelmäßig Bestseller – ich hatte einfach angenommen, dass auch in deutschen Universitäten längst der Wind dieses Wandels wehte. Allmählich dämmerte mir, warum mein damaliger bester Freund seine Doktorarbeit lieber in den USA schrieb.
Doch bei meiner Freundin kündigte sich inzwischen auch Nachwuchs an – und schlagartig war alles andere nicht mehr wichtig. Einen Tag vor St. Martin, mitten in der Nacht, erblickte unsere zauberhafte Tochter das Licht der Welt, drei Jahre darauf unser ebenso wunderbarer Sohn.
Das alles ist nun über zwanzig Jahre her. Meine Tochter studiert inzwischen selbst; drei Jahre nach ihr erblickte auch ihr Bruder das Licht der Welt. Auch er sitzt in den Startlöchern zum Studium. Und mich beschäftigen plötzlich wieder die Fragen von damals – wenn auch jetzt aus einem völlig anderen Blickwinkel.
Im Grunde, dachte ich eben noch, schließt sich nun der Kreis, den ich damals an der Wegscheide zwischen Beruf und Familie unvollendet ließ. Ich wollte meine Gedanken, Eingebungen und Fragen schon immer mit anderen Menschen teilen. Ich erinnere mich noch wie heute, wie im elften oder zwölften Schuljahr mein Lieblingslehrer mir eine Klassenarbeit mit einer großen schwungvollen 1 benotet hatte – und darunter ein einziger Satz: »Deine Sprache ist wie eine Droge.« Ich war damals dumm genug, daraufhin tatsächlich erst einmal alle möglichen Drogen durchzuprobieren… bis mir dann allmählich dämmerte, dass ich mich verhielt, als hätte er geschrieben: »Deine Sprache ist wie auf Droge.«
Vor allem aber berührte dieser kleine Satz mich darum so sehr, weil ich
aber ich habe mich von der etablierten Wissenschaft abgewandt.
Die tiefsten Kräfte, die vor dreihundert Jahren das Zeitalter der Aufklärung einläuteten, waren Lebenskräfte. Ihre Absicht war unsere Mündigkeit, nicht unsere Ent-Spiritualisierung. Es ist dieses Missverständnis, aus dem die Plagen des Materialismus und der Technokratie erwuchsen: was wir vorher an Verantwortung auf den Kirchengott und die Priester projezierten, schieben wir heute auf die Maschinen und ihre Entwickler. Wir sind noch immer nicht erwachsen geworden. Aus Sicht jener ursprünglichen Kräfte stehen wir noch immer vor der Aufklärung.
Die Menschheit, so sie nicht an ihren eigenen Problemen ersticken will, benötigt heute eine neue Wissenschaft, ja ein gänzlich neues Selbstverständnis. Wir benötigen eine nochmalige Aufklärung, die endlich auch in den Kern unseres Lebens hineinreicht – ein noch viel tieferes Erwachen als das damalige. Diesmal ist es unsere Seele, die erwachen muss. Nicht nur unser Verstand.
Wirkliche Aufklärung ist immer auch Läuterung. »Wissenschaft« – das kann nicht länger nur unbeteiligtes Messen und Beobachten sein. Die Forderung, die in der Schulwissenschaft als Objektivität lebt, lautet in Wahrheit seit je: Selbstlosigkeit. Objektivität ist davon nur ein billiger ABklatsch. Denn Neutralität ist nicht genug. Genau genommen heißt »Objektivität« ja sogar »Verdinglichung« – und in der Tat hat die Wissenschaft alles zum Ding gemacht, zum Objekt auf dem Seziertisch.
Die Wissenschaft für die Zukunft muss wieder lebendige Begegnung mit ihrem Gegenstand sein. Er muss zum Gegenüber werden, mit dem der Forscher in innere Gemeinschaft tritt. Was heute not tut, ist eine Wissenschaft des Herzens – ja: aller Herzen.
Diese »Herzenswissenschaft« gibt uns unsere Seele wieder, ohne uns um die guten Früchte des Bisherigen zu betrügen. Sie ist die »fröhliche Wissenschaft«, deren Kommen bereits NIETZSCHE voraussah, aber selbst nicht mehr erleben konnte. Auch das prophetische Wort von der »Romantisierung des Lebens«, das NOVALIS gab, wird in ihr eingelöst.
Hier haben wir ein Tor gefunden, dass uns gleichermaßen ins Beseelte (Herz) wie ins Allgemeingültige (Wissenschaft) führt. Endlich können wir der Wissenschaft ihre Mitte und Würde, die sie durch ihr Unmaß verlor, wieder zurückgeben- und wieviel mehr noch uns selbst!
Viel zu vielen ist heute die Wissenschaft eine Art Religion geworden: Maßstab für Wahrheit – und auch Ethik. Aber wie soll eine Wissenschaft, die alles zum Ding macht, unserem Gewissen dienen? Herzenswissenschaft lässt das Lebendige leben –ja, das Leben ist überhaupt ihr Ziel. Sie versucht, alle Geister zu prüfen und das jeweils Beste zu behalten – und dafür alles zu verlassen, was dem Leben und dem Urgesetz widerspricht.
So können wir die Erde, an der wir so lange unsere Allmachtsträume ausgelassen haben, wieder gesund machen.
Ebenso aber finden auch unsere eigenen Herzen Heilung: denn wie die neue Wissenschaft uns lehrt, den Dingen und der Welt ins Herz zu schauen, so lehrt sie uns auch den Blick ins eigene Herz.
Dort führt sie uns schließlich auch zu ihrem eigentlichen Geheimnis:
die kostbarste Frucht ist nicht das Wissen, sondern die Meisterschaft.
Und für die gibt es keine weder Prüfungen und Examen noch Doktortitel – nur die Bestätigung durch das Leben selbst.
Diese Herzens-Meisterschaft ist die höchste Würde, die ein Mensch erreichen kann.
Sie ist der wahre »Ausgang aus unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie einst Kant es so schön sagte –
als man ihn fragte, was denn eigentlich »Aufklärung« sein soll.
Raus aus der Unmündigkeit – heute würden wir vielleicht sagen: Raus aus der Fremdbestimmung, den einschränkenden Glaubenssätzen, der Angst vor Gefühlen, der Angst vor dem Leben.
Klingt das eine Spur zu großartig?
Ja, es ist groß; und es ist wunderbar.
Und doch kann jeder diese Meisterschaft des Herzens erlangen, der guten Willens ist.
Aber wie?
Nun, ihr ahnt es sicher schon – indem ihr ganz Seele seid.
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